Der Oberste Gerichtshof spricht einer jungen Frau Schmerzengeld zu, die nach einem schweren Unfall ihrer Eltern magersüchtig geworden ist.
WIEN. Der Oberste Gerichtshof setzt seine neue Judikatur fort, mit der er den Kreis der Schmerzengeld-Berechtigten schrittweise erweitert: Das Höchstgericht hat einer jungen Frau Schmerzengeld zugesprochen, die als Folge eines schweren Motorradunfalls ihrer Eltern an Magersucht erkrankt war. Der Autofahrer, der den Unfall verschuldet hat (bzw. seine Haftpflichtversicherung), muss der Frau 21.500 Euro Schmerzengeld zahlen.
Die Eltern der damals 14-jährigen Klägerin mussten wegen etlicher, teils komplizierter Knochenbrüche wochenlang stationär behandelt werden und waren danach monatelang pflegebedürftig. Während dieser Zeit lebte das Mädchen mit ihrem Bruder allein zu Hause und führte den Haushalt. Die Aufgabe, Schule und Haushalt nebeneinander zu bewältigen, überforderte sie: "Aus Trotz", wie es in den gerichtlichen Feststellungen heißt, trat sie "gleichsam in den Hungerstreik". Schwere, auch psychiatrisch zu behandelnde Essstörungen waren die Folge. Ende 1999 brachte das Mädchen nur noch 33 Kilo auf die Waage. Erst im April 2000 konnte sie, mühsam auf 44 Kilo aufgepäppelt, aus dem Spital entlassen werden.
Der OGH bejahte den Ersatzanspruch für den "Fernwirkungsschaden" der seelisch schwer erschütterten jungen Frau (2 Ob 111/03t, "Presse"-Fax auf Abruf unter 0900/55 55 11-03, 9 Seiten, max. 1,08 Euro/Minute). Er schrieb damit seine Judikaturlinie fort, die den immateriellen Schadenersatz behutsam erweitert. Zwei Präzedenzfälle, in denen der Gerichtshof ebenfalls mittelbare psychische Schäden als ersatzfähig erkannte, hatten sich vom neuen Fall in einem Punkt unterschieden: Beide Male waren die Opfer am Unfallgeschehen direkt beteiligt gewesen. Vergleichbar, wenn auch aus einem anderen Grund etwas anders gelagert war auch der Schmerzengeldanspruch eines Mannes, der durch die Nachricht vom Tod - und nicht bloß von Verletzungen - eines Angehörigen in schwere Depressionen verfallen war. Der Gerichtshof war sichtlich bemüht, die Warnung der Beklagten vor einer unbegrenzten Ausuferung des Schadenersatzes zu entkräften: Einerseits sei die Gesundheitsschädigung der Klägerin als eine "gerade noch adäquate", also nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung liegende, Folge des Unfalls zu betrachten; außerdem habe zwischen der Klägerin und deren Eltern eine von der Rechtsordnung anerkannte familiäre Sonderbeziehung bestanden.
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auf gut deutsch:
In Zukunft kann man anscheinend auch für Dinge bestraft werden, die man nicht direkt und unmittelbar verursacht hat! Die Bestimmung des Ausmaßes an zu leistenden Schadenersatzzahlungen wird also, weil die Höchstrichter aus zumindest mir unerfindlichen Gründen befunden haben, "die immateriellen Schadenersatzansprüche behutsam zu erweitern", für den Beklagten zunehmend zum Glücksspiel. Die rechtlichen Grundlagen für diese neue "Judikaturlinie" sind jedenfalls äußerst dürftig, siehe die Rechtfertigung für das Urteil: "Gesundheitsschädigung der Klägerin liegt nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung" sowie "familiäre Sonderbeziehung" zwischen Eltern und Tochter.